verfasst: Juni 2025

 
Wo etwas Neues entsteht, steht meist ein Mensch am Anfang – die „Quelle“, in der Schöpfungskraft und Verantwortung zusammenfinden.
Aus ihr fließt der Impuls, der bewegt, verbindet und Wandel möglich macht.
Doch dieselbe Kraft kann sich verkehren, wenn aus Inspiration Einfluss wird, aus Verantwortung Anspruch – und aus Beziehung Bindung, Abhängigkeit oder Macht.
Dann beginnt das, was ins Leben gerufen wurde, der Quelle zu dienen, statt aus ihr zu wachsen.
Der Essay fragt, wie die Quelle schöpferisch bleiben kann, ohne das Leben, das aus ihr fließt, in ihren eigenen Schatten zu ziehen.

 

Kapitel 1 – Der Zauber des Anfangs

Jeder Anfang trägt einen Zauber. Etwas Neues tritt hervor, das nicht aus Routine geboren ist, sondern aus einem Impuls, der sich nicht länger aufschieben lässt. Hermann Hesse hat diesen Zauber in seinen Versen unsterblich gemacht¹. Doch in jedem Zauber liegt auch ein Schatten. Kein Ursprung ist rein, er ist verwoben mit den Erfahrungen, Bedürfnissen und Verletzungen jener, die ihn setzen.

In der Quellentheorie von Peter Koenig und Johannes Hochholzer wird dieser Moment als „Quelle“ beschrieben². Die Quelle ist jene Person, die den ersten Impuls setzt, Verantwortung übernimmt und den Anfang ins Leben trägt. Sie ist nicht das Projekt selbst, sondern bleibt mit dessen Ursprung verbunden. Gerade diese Verbindung macht die Quelle so ambivalent: inspirierend einerseits, belastend andererseits.

Ein Projekt leuchtet durch den Impuls – doch es trägt auch Spannungen, die aus dem Ungeklärten in der Quelle stammen. Diese Spannungen finden Resonanz bei den Beteiligten, gehen in Reibung mit deren eigenen Ungeklärtheiten und schreiben sich in die Atmosphäre ein. So wirkt die Quelle wie ein Resonanzraum, in dem sich Ursprung und persönliche Geschichte verweben – das Erste, was ruft, und das, was uns geformt hat. Alte Erfahrungen – Misstrauen, das einmal entstanden ist, unerfüllte Bedürfnisse nach Anerkennung, kulturelle Muster – strahlen aus, prägen die Stimmung und wirken im Feld.

Man kann das in Gemeinschaftsgründungen beobachten: Am Anfang tragen Begeisterung und Tatendrang, doch bald stoßen sie auf Erwartungen, unausgesprochene Bedürfnisse oder alte Verletzungen – sowohl bei der Quelle wie bei den Beteiligten. Was unausgesprochen bleibt, drückt sich in der Atmosphäre aus: als Leichtigkeit oder als Spannung, als Vertrauen oder als Misstrauen.

Hier wird eine Gefahr sichtbar: Die Quelle und das Projekt werden verwechselt. Dann verwandelt sich Achtung in Abhängigkeit, Würdigung in Personalisierung, Verantwortung in Besitz. Der Zauber des Anfangs kippt in Macht – und Macht, die sich dem Blick entzieht, wird zum Schatten.

Kapitel 2 – Schatten und Macht

Wo Ursprung und Auftrag mit einer Person als Quelle zusammenfallen, entsteht leicht eine besondere Machtdynamik. Am deutlichsten zeigt sie sich dort, wo sie geleugnet oder als spirituelle oder moralische Autorität verklärt wird. Die Quelle erscheint dann betont machtlos oder erleuchtet und zieht im Verborgenen doch die Fäden. So entsteht eine quasi-unantastbare Instanz, in der die Quelle und deren Sichtweisen nur schwerlich in Frage gestellt werden können – eine der dunkelsten Schattenseiten des Anfangs³.

Die Quelle ist damit ein Brennpunkt von Macht. Doch sie ist nicht ihr einziger Ort: Macht wirkt auch dort, wo Besitz, Entscheidung und Geschichte unabhängig von der Quelle verteilt sind. Um das ganze Feld zu verstehen, lohnt es, die Gestalten der Macht genauer zu betrachten.

Macht zeigt sich nicht in einer einzigen Form, sondern verdichtet sich an verschiedenen Punkten. Wer die Mittel verwaltet, über Räume, Finanzen oder Strukturen verfügt, trägt Gewicht. Wer Regeln setzt, Verfahren bestimmt oder Türen öffnet und schließt, bestimmt den Takt. Wer erzählt, wie etwas begonnen hat und wohin es führt, prägt den Sinn. Besitz, Entscheidung und Geschichte sind die Achsen, an denen sich Macht sammelt⁴.

Doch selten stehen sie allein. Es sind oft unsichtbare Verstärker, die ihnen zusätzliche Wucht geben: exklusive Informationen, der Zugriff auf Netzwerke, ein besonderes Charisma oder einfach die Zeit, präsent zu sein, wenn andere fehlen. So entsteht ein Gewebe, das schwer zu durchschauen ist – und dessen Fäden nicht nur in der Hand der Quelle liegen müssen. Auch wenn Ursprung und Auftrag längst geteilt sind, bleiben diese Kräfte wirksam; sie durchziehen jedes Projekt, mal stützend, mal hemmend⁵.

Diese Verdichtungen werden gefährlich, wenn sich der Blick der Gruppe auf eine einzige Figur oder Instanz verengt. Wie im Mythos von Medusa, deren Blick alles Lebendige in Stein verwandelte, kann auch hier ein Bann entstehen: Aufmerksamkeit erstarrt, Bewegungen gefrieren, jede Abweichung scheint unmöglich. Nicht durch Böswilligkeit, sondern durch Fixierung wird das Lebendige starr.

Was diesem Bann entgegenwirkt, sind „Blickbrecher“: bewusste Unterbrechungen – Moderation, Rollenwechsel, Stille –, die das Verhärtete auflockern. Diese Blickbrecher können auch sehr lange Unterbrechungen darstellen: Ein WIR-Prozess nach Scott Peck kann drei Tage und länger dauern. Solche Spiegelungen öffnen Perspektiven und machen sichtbar, dass Macht nicht nur lähmen, sondern auch verbinden kann – wenn sie geteilt und reflektiert wird⁶.

So liegt die Aufgabe nicht darin, Macht zu verneinen oder ihr zu entfliehen, sondern sie im gemeinsamen Bewusstsein zu halten. Nur dann bleibt sie gestaltbar und wird nicht selbst zur unsichtbaren Regie, die das Ganze lenkt⁷. Gerade die Quelle steht hier exemplarisch: Sie trägt den Ursprung, doch ihre Macht bleibt nur dann fruchtbar, wenn sie gespiegelt, geteilt und in Formen eingebettet wird. Blickbrecher helfen, diese Macht durchsichtig zu halten – und sie können zu Formen der Ethik werden, die das Lebendige schützen. Dort setzt der nächste Schritt an: die Frage nach Haltung und Form, die einen Anfang tragen.

Kapitel 3 – Formen, die tragen

Jeder Anfang braucht beides: innere Haltung und äußere Form. Auch Haltung ist eine Form, die trägt – sie gibt dem Unsichtbaren Gestalt. Ohne innere Seite, also das Lauschen, die Wahrhaftigkeit, die Demut, verflacht der Anfang zur bloßen Technik. Ohne äußere Seite, etwa Rollen, Entscheidungswege und Transparenz, kippt er in Personalisierung. Lebendig wird er erst im Zusammenspiel: spürbar durch Haltung, tragfähig durch Form⁸.

Formen sind keine starren Gerüste, sondern Gefäße, die einen Anfang halten und schützen. Ein Kreisgespräch, ein Konsentverfahren, die offene Wahl oder eine einfache Dokumentation – sie schaffen Orte, an denen Impulse nicht im Persönlichen steckenbleiben, sondern in gemeinsames Handeln übergehen⁹.

Doch Formen allein genügen nicht. Ohne die innere Seite verlieren sie ihre Seele; sie können dann zur bloßen Technik oder gar zur Herrschaftsform werden. Wo Haltung fehlt, werden sie Mittel der Kontrolle; wo Form fehlt, entgleitet das Projekt in Personalisierung und Abhängigkeit. Nur im Zusammenspiel von innerer und äußerer Seite entsteht eine lebendige Gestalt¹⁰.

Verantwortung teilen heißt auch, Risiko zu teilen. Es reicht nicht, wenn Einzelne kleine Beiträge leisten. Damit das Feuer frei bleibt, muss die Last des Anfangs von der Quelle weg und auf viele Schultern verteilt werden. Manchmal bedeutet das, Zeit und Ressourcen einzubringen, manchmal den Mut, ein Experiment zu wagen. Wenn viele tragen, bleibt das Feuer frei – in gemeinsamer Obhut, nicht in einer Hand. Es gehört niemandem, sondern wird gemeinsam gehütet.

Hüten heißt dann auch, dem Lebendigen Nahrung zu geben – durch Bewegung, Tanzen oder gemeinsames Singen, durch eine gestaltete Kreismitte, durch Zeiten in der Natur, durch gutes Essen und Trinken oder das Feiern kleiner Erfolge. Ebenso gehört dazu, das Organisatorische zu teilen – wer die Kommunikation übernimmt, wer dokumentiert, wer auf die Finanzen achtet.

So verteilt sich das Risiko, und die Durchlässigkeit bleibt erhalten. So sinkt die Gefahr, dass jemand – oft unbewusst – das Feuer zu seinem Eigenen macht, genährt von Sehnsucht nach Anerkennung oder dem Wunsch, gesehen zu werden¹¹.

Formen tragen damit eine doppelte Ethik: Sie müssen zugleich offen und verbindlich sein. Offen, damit niemand sie als Besitz beanspruchen kann. Verbindlich, damit sie mehr sind als wohlklingende Worte. In dieser Spannung entfalten sie ihre Kraft: Sie halten den Anfang lebendig und schützen zugleich vor den Schattenseiten, die jeder Anfang mit sich bringt¹².

Kapitel 4 – Am Ende des Anfangs

Jeder Anfang trägt sein eigenes Ende in sich – nicht als Schlussstrich, sondern als Übergang: vom ersten Impuls zu einer gemeinsamen Verantwortung. Was aus einer Quelle hervorgeht, bleibt nicht bei ihr stehen. Es wandert weiter – in andere Hände, in neue Konstellationen, in Formen, die das Getragene über den Moment hinaus bewahren¹³.

Doch dieser Übergang ist kein Selbstläufer. Er verlangt, dass auch die Schatten des Anfangs angesehen werden: die ungelösten Muster der Quelle, die unausgesprochenen Erwartungen der Beteiligten, die Versuchungen der Macht. Werden sie verdrängt, kehren sie zurück – als Konflikte, Spaltungen, stille Rückzüge. Werden sie bewusst gemacht, können sie zum Stoff für Wachstum werden¹⁴.

So entsteht eine Kultur der Wachheit: eine Haltung, die die Quelle ehrt, ohne sie zu idealisieren; die die Macht sieht, ohne ihr zu verfallen; die Verantwortung teilt, ohne sie zu zerstreuen. Am Ende des Anfangs entscheidet sich, ob ein Projekt zu einer lebendigen Praxis wird oder ob es in den Bann seiner Schatten zurückfällt¹⁵.

Die Ethik des Anfangs besteht darin, diese Übergänge zu begleiten – mit Formen, die offen bleiben, und mit Haltungen, die Verantwortung ernst nehmen. Dauer ist nicht das Ziel, sondern die Fähigkeit, sich immer neu vom Ursprung her auszurichten, ohne ihn zu verengen. In diesem Sinn ist der Anfang nie vorbei. Er bleibt eine Schwelle, die sich immer wieder und wieder öffnen kann¹⁶.

Über den Autor

Gerhard Groß verbindet eine holistische Sicht auf Ökonomie mit Fragen nach Ethik und menschlicher Entwicklung. Nach vielen Jahren in leitenden Positionen in Konzernen arbeitete er als freiberuflicher Prozessbegleiter, Organisationsentwickler und Coach.
Heute widmet er sich den tieferen Dynamiken von Wandel – jenen Kräften zwischen Struktur und Bewusstsein, die über Erfolg oder Erneuerung entscheiden. Sein Fokus liegt auf dem, was Systeme lebendig hält: Resonanz, Verantwortung und Menschlichkeit.

Fußnoten

¹ Hermann Hesse: Stufen. In: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 1. Suhrkamp 1970.
² Peter Koenig / Johannes Hochholzer: Quellentheorie. Vom Ursprung in Projekten. Zürich 2010.
³ Michel Foucault: Macht und Moral. Frankfurt am Main 2016.
⁴ Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1982.
⁵ Christoph Schmidbauer: Macht in Gruppen. Dynamiken verstehen – Entwicklungsräume gestalten. Stuttgart 2019.
⁶ Scott Peck: The Different Drum. Community Making and Peace. New York 1987.
⁷ Hannah Arendt: Macht und Gewalt. München 1970.
⁸ Otto Scharmer: The Essentials of Theory U. Oakland 2018.
⁹ Gerald M. Weinberg: The Secrets of Consulting. New York 1985.
¹⁰ Frederic Laloux: Reinventing Organizations. Brussels 2014.
¹¹ Gerald Hüther: Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft. München 2018.
¹² Martin Buber: Das dialogische Prinzip. Heidelberg 1973.
¹³ Paul Tillich: Der Mut zum Sein. Stuttgart 1952.
¹⁴ Arnold Mindell: Sitting in the Fire. Portland 1995.
¹⁵ Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg 1989.
¹⁶ Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1927.

 

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