verfasst: Mai 2025

Die digitale Welt wird präziser wir werden leiser. Dieser Essay sucht den Zwischenraum, in dem Entscheidung, Beziehung und Verantwortung nicht berechnet, sondern beantwortet werden.

1. Was uns entgleitet

Ein Gerät, das rechnet. Ein System, das antwortet. Was als Hilfe begann, wurde zur Routine – und schließlich zum Rahmen, der unser Denken und Handeln stillschweigend mitprägt. Effizienz statt Erfahrung. Funktion statt Beziehung.

Wir leben vernetzt, vermessen, getaktet. Was nicht sichtbar, zählbar oder verwertbar ist, scheint irrelevant. Doch je perfekter die Simulation, desto größer die Sehnsucht nach dem Echten.

Was wir verlieren, ist nicht nur die Verbindung zu anderen – sondern zu jenem inneren Raum in uns, der still geworden ist und darauf wartet, dass wir ihm begegnen. Kein Algorithmus kann diesen Raum ersetzen. Kein System kann erfühlen, was uns trägt.

Ob in sozialen Netzwerken, in personalisierter Werbung oder bei der Musikauswahl – längst beeinflussen Systeme unsere Stimmungen und Vorlieben. Sie versprechen Resonanz – und programmieren Reaktion. Was wie Beziehung erscheint, ist oft nur ein algorithmisches Echo – ohne Tiefe, ohne Antwort aus dem Innersten.

Sie versprechen Resonanz – und programmieren Reaktion.

2. Das Nicht‑Messbare

Was ist ein Lächeln, das aus dem Innersten kommt? Ein Blick, der nicht analysiert, sondern versteht? Eine Geste, die heilt – ohne Zweck, ohne Ziel?

Das Menschliche zeigt sich dort, wo es sich nicht beweisen will: in der Zartheit, im Zweifel, im Innehalten. All das ist unökonomisch. Und doch entsteht darin alles: Sinn, Verbindung, Tiefe.

Vielleicht ist Menschsein keine Definition, sondern eine Bewegung: vom Außen ins Innen. Von der Oberfläche zur Tiefe. Von der Funktion zum Wesen. In dieser Bewegung – vom Außen ins Innen – beginnt Verantwortung.

Diese Qualität entzieht sich der Logik der Systeme. Kein Datensatz kennt Empathie. Kein Sensor erfasst das innere Zittern vor einer mutigen Entscheidung. Und doch ist genau das der Ort, an dem wir wahrhaft Mensch werden.

Der Philosoph Emmanuel Levinas beschreibt die Verwundbarkeit als Quelle ethischer Beziehung – und den Genuss als Fähigkeit, sich vom Anderen berühren zu lassen, jenseits von Nutzen und Kalkül. Menschsein hat seinen Ort insbesondere in der Antwort auf das Du – nicht in der Funktion, sondern in Verantwortung.

Quelle: Emmanuel Levinas, „Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität“ (1961), dt. Suhrkamp; sowie „Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht“ (1974), dt. Fink.

Gerechtigkeit ist eine normative Setzung, keine Rechenoperation.

3. Die neue Kontrolle

Künstliche Intelligenz (KI) sollte uns befreien. Heute kuratieren algorithmische Systeme unsere Wahrnehmung und priorisieren Handlungsoptionen – oft unsichtbar, immer wirksam. Sie analysieren unsere Muster – nicht unsere Würde. In der Konzentration weniger Akteure werden sie zu Machtinstrumenten.

Systeme wie Predictive Policing oder KI‑gestützte Bonitätsprüfungen zeigen: Wenn Algorithmen auf verzerrten Daten basieren, reproduzieren sie bestehende Ungleichheiten – häufig verstärkt und meist unsichtbar. Je feiner die Analyse, desto unsichtbarer die Kontrolle. Je schneller die Prozesse, desto weniger Raum für Widerspruch.

Ohne ein lebendiges Bewusstsein für Würde, Freiheit und Verantwortung steht mehr auf dem Spiel als unsere Privatsphäre. Es geht um unsere Fähigkeit, zu spüren, zu zweifeln, zu gestalten – nicht als Funktion, sondern aus einem inneren Raum schöpferischer Selbstbestimmung.

Exkurs: Vom Rechnen zum Ringen – Warum Maschinen keine Verantwortung tragen

Die Stärke künstlicher Intelligenz liegt in ihrer Fähigkeit, Probleme zu lösen. Doch nicht jede Entscheidung ist ein Problem – manche sind eine Zumutung. Ein Problem hat eine Lösung. Ein moralisches Dilemma hat nur Folgen.

Ein Arzt, der zwischen zwei Leben entscheiden muss. Ein Richter, der urteilt, obwohl ihm Zweifel bleiben. Ein Mensch, der sich schuldig fühlt, obwohl er „alles richtig gemacht“ hat. In solchen Momenten zeigt sich: Entscheidungen sind nicht nur kognitive Prozesse – sie sind ethische Prüfungen.

KI kennt kein Ringen. Kein Bedauern. Kein Schuldempfinden. Sie entscheidet – aber sie verantwortet nicht. Ihre Stärke ist ihre Klarheit. Ihre Schwäche ist ihre innere Leerstelle.

Je mehr wir Maschinen Entscheidungen überlassen, desto größer die Versuchung, auch die Verantwortung an sie abzugeben. Dann wird nicht mehr gefragt: „Was ist richtig?“, sondern: „Was ist effizient, risikominimiert, konsensfähig?“

Eine Gesellschaft, die moralische Dilemmata technisch auflöst, verliert etwas Wesentliches: das Aushalten von Ambivalenz. Das gemeinsame Ringen um Bedeutung. Das Menschliche – im vollen, unlösbaren Sinne.

Maschinen entscheiden ohne zu haften. Verantwortung bleibt menschlich – oder sie verschwindet.

4. Geld und Macht: Das blinde System

Das bestehende Geldsystem – insbesondere Zins‑ und Zinseszinseffekte – erzeugt Wachstumszwänge, die Akkumulation begünstigen. In reifen Finanzsystemen fließt tendenziell mehr Kapital in finanzielle Vermögenswerte als in reale Wertschöpfung – mit Folgen für Ungleichheit und Zeithorizonte. Das fördert kurzfristiges Denken, beschleunigt Ausbeutung und verdrängt langfristige ökologische und soziale Verantwortung.

In einer von KI und algorithmischen Systemen geprägten Welt wirkt diese Dynamik subtiler: Reichtum, Einfluss und Entscheidungen konzentrieren sich – scheinbar objektiv, tatsächlich aber systemisch voreingestellt. Algorithmen berechnen Wahrscheinlichkeiten – aber keine Gerechtigkeit. Sie erkennen Muster – aber nicht das Maß des Menschlichen.

Gerechtigkeit ist eine normative Setzung, keine Rechenoperation. Technik kann sie nicht hervorbringen. Was wie Fortschritt erscheint, entpuppt sich zu oft als Verstärker bestehender Verhältnisse. Algorithmen quantifizieren Ungleichheit, verfeinern Prognosen, analysieren Risikoprofile – doch sie bewerten nicht, was gerecht oder würdevoll ist. In einer auf Effizienz und Optimierung ausgerichteten Ordnung wird soziale Ungleichheit nicht als Missstand behandelt, sondern als verwertbares Muster.

Modelle wie die Gemeinwohlökonomie oder soziokratische Entscheidungsformen zeigen Alternativen: Transparenz, Sinnorientierung, Teilhabe. Es braucht neue Maßstäbe für Wert – und den Mut, sie gegen die Logik des Systems zu stellen.

5. Verantwortung in der KI‑Entwicklung

Technologie ist nie neutral. Sie trägt die Handschrift ihrer Entwicklung – in jeder Zeile Code, in jedem Interface, in jeder Empfehlung, die große Sprachmodelle (LLMs), Social‑Media‑Feeds oder Gesichtserkennungssysteme generieren. Was technisch wirkt, ist oft kulturell und politisch geprägt. Wer die Algorithmen kontrolliert, formt Weltbilder.

Es braucht Menschen, die Verantwortung übernehmen – nicht nur technisch, sondern ethisch. Die entscheidende Frage lautet nicht: Können wir das entwickeln? Sondern: Wollen wir das so – dass es dem Menschen dient und nicht nur dem Markt?

Was fair ist, lässt sich nicht in Code gießen. Gerechtigkeit beginnt mit Haltung.

Maschinen entscheiden ohne zu haften.

6. Widerstand und Rückbindung

Trotz aller Bedrohungen bleibt der Mensch ein Wesen, das wählen kann. Noch ist die Zukunft nicht programmiert – sie entsteht aus Entscheidungen, Haltungen, Praktiken. Der notwendige Widerstand richtet sich nicht gegen Technologie an sich, sondern gegen ihre unreflektierte Totalisierung. Es geht um die bewusste Rückbindung an das Menschliche: das feine Spüren, das offene Herz, die Ahnung vom Größeren.

In einer Welt, die zunehmend von Algorithmen geformt wird, brauchen wir Räume, in denen etwas anderes zählt:

• Bildung, die nicht nur Wissen vermittelt, sondern Urteilskraft fördert – ein Lernen, das Neugier weckt und die Freude am Ergründen in den Vordergrund stellt. • Technologien, die dezentral, regenerativ und partizipativ sind – etwa gemeinschaftlich betriebene Energiesysteme, offene Dateninfrastrukturen und partizipative Open‑Source‑Plattformen. • Gemeinschaften, die mehr sind als Orte des Zusammenlebens: lebendige Keimzellen kulturellen Wandels, in denen auf Augenhöhe entschieden wird – zum Beispiel mit soziokratischen Verfahren. • Kunst, Spiritualität und Philosophie, die Räume der Unterbrechung öffnen – wo Sinn nicht beschleunigt, sondern erfahren wird. • Eine Beziehung zur Natur, die das Gegenüber achtet – mit einer regenerativen Haltung, die Gleichgewichte heilt und das Lebendige erneuert.

Ein solcher Wandel verlangt mehr als neue Strukturen – er verlangt eine neue geistige Haltung: das Menschliche nicht als Randnotiz, sondern als Maßstab aller Entwicklung zu begreifen. Der Mensch muss nicht zum Sklaven seiner Schöpfungen werden. Er kann Hüter des Lebendigen sein – wenn er sich erinnert, wer er ist.

Unsere Zukunft wird nicht allein durch Technologie entschieden, sondern durch unsere Bereitschaft, zu antworten.

Empfohlene Autorinnen und Autoren: Günther Anders, Hans Jonas, Martin Buber, Shoshana Zuboff, Luciano Floridi, Hartmut Rosa, Peter Bieri, Emmanuel Levinas, Viktor E. Frankl.

Über den Autor

Gerhard Groß verbindet eine holistische Sicht auf Ökonomie mit Fragen nach Ethik und menschlicher Entwicklung.
Nach vielen Jahren in leitenden Positionen in Konzernen arbeitete er als freiberuflicher Prozessbegleiter, Organisationsentwickler und Coach.
Heute widmet er sich den tieferen Dynamiken von Wandel – jenen Kräften zwischen Struktur und Bewusstsein, die über Erfolg oder Erneuerung entscheiden. Sein Fokus liegt auf dem, was Systeme lebendig hält: Resonanz, Verantwortung und Menschlichkeit..

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